Einleitung: Persönlicher Einstieg
Neulich saß ich an einem warmen Sommerabend mit Freunden am Tisch – ein bunt gemischter Haufen: Christin, Muslim, Atheist, Buddhistin. Was als gemütlicher Grillabend begann, wurde schnell zu einer tiefgründigen Diskussion: Brauchen wir Religion heute eigentlich noch? Oder ist sie ein Relikt aus einer anderen Zeit?
Die Antworten waren so unterschiedlich wie unsere Hintergründe. Für die einen ist Religion eine Quelle der Hoffnung, für andere eine Ursache von Spaltung. Und ich selbst? Ich schwankte zwischen Faszination und Zweifel. Denn ich sehe beides: das enorme Potenzial von Religion, Menschen zu verbinden – und die Gefahr, sie als Machtinstrument zu missbrauchen.
Diese Frage ließ mich nicht los. In einer Welt, die immer globaler, digitaler und wissenschaftlicher wird – in der wir über die Agenda 2030 über nationale, kulturelle und religiöse Grenzen hinweg denken sollen – haben Religionen da überhaupt noch Platz?
Ich habe begonnen, zu recherchieren, zu lesen, zuzuhören – kritisch, offen, ehrlich. Dieser Beitrag ist das Ergebnis meiner Auseinandersetzung: Warum gibt es verschiedene Religionen? Welche Rolle spielen sie heute noch? Und wie sieht echte, sinnvolle Zusammenarbeit über Glaubensgrenzen hinweg aus?

Religionen begleiten die Menschheit seit den Anfängen der Zivilisation. Sie geben Antworten auf existenzielle Fragen, stiften Gemeinschaft und bieten Halt. Doch das moderne Zeitalter – geprägt von Globalisierung, Wissenschaft, Digitalisierung und dem Streben nach universellen Zielen (z. B. Agenda 2030) – stellt die Rolle von Religionen auf den Prüfstand. Sind sie heute noch zeitgemäß? Können Sie als Vorbilder agieren – oder wirken Sie eher als Bremser? Ich gehe dieser Frage kritisch nach und illustriere anhand konkreter Beispiele, wie Religionen zusammenarbeiten – aber auch, wo sie versagen.
1. Warum gibt es verschiedene Religionen?
1.1 Historische und kulturelle Ursachen
- Regionale Evolution: Religionen entstanden in unterschiedlichen Kulturkreisen als Antwort auf grundlegende Fragen: Ursprung, Tod, Leiden, Moral. Die geografische Isolation und kulturelle Diversität führten zu eigenständigen religiösen Antworten – von Naturreligionen über polytheistische Systeme bis hin zu Monotheismen.
- Soziale Ordnung und Identität: Religionen strukturierten Gemeinschaften, kodifizierten Moral und gaben Identität – in Zeiten ohne schriftliche Gesetzbücher oder zentralisierte Staaten waren religiöse Autoritäten unverzichtbar.
2. Sind Religionen heute noch zeitgemäß?
2.1 Positive Aspekte – zeitgemäß und relevant
- Sinnstiftung in unsicheren Zeiten: Auch im digitalen Zeitalter suchen Menschen nach Sinn. Religion kann Antworten auf existentielle Fragen bieten und Gemeinschaft stiften.
- Humanitäres Potenzial im Sinne der Agenda 2030: Viele religiöse Organisationen engagieren sich aktiv für soziale Gerechtigkeit, Bildung, Umweltschutz und Friedensarbeit – Werte, die international anerkannt und gefördert werden.
- Beispiel KAICIID & Bildung: Religiöse Gemeinschaften sind weiterhin wesentliche Akteure bei der Umsetzung des SDG 4 (inklusive Bildung). Sie bauen Schulen, schulen Lehrkräfte und stärken sozialen Zusammenhalt – etwa muslimische Hilfsorganisationen in Gaza oder die Lutherische Weltföderation weltweit KAICIID.
- Interreligiöse Umweltinitiativen:
- GreenFaith, eine globale Koalition von Religionsgemeinschaften, setzt sich für Klimagerechtigkeit, Fossil-Free-Aktionen und Bewusstseinsbildung ein – mit über 100 lokalen „Kreisen“ in weltweit mehr als 40 Ländern Wikipedia.
- Das Interfaith Center for Sustainable Development (ICSD) in Jerusalem fördert ökologische Bildung im religiösen Kontext („EcoPreacher 1-2-3″, „EcoBible“), veranstaltet Konferenzen, produziert Bildungsvideos (z. B. mit Nas Daily) und realisiert Solarprojekte in Afrika Wikipedia.
- Faith For Our Planet, gegründet 2022, vernetzt religiöse Führungskräfte zur Bekämpfung der Klimakrise, organisiert Trainings in Pakistan, London und Gambia Wikipedia.
- Interreligöse Plattformen auf globaler Ebene:
- Das R20-Forum (G20 Religion Engagement Group) in Bali (2022) brachte über 160 religiöse Verantwortungsträger aus 20 großen Volkswirtschaften zusammen, um globale Herausforderungen zu diskutieren Wikipedia.
- Die Parlamentsversammlung der Religionen der Welt verbindet Religionen seit 1893 – zuletzt 2015 in Salt Lake City – für Friedens-, Umwelt- und soziale Themen realitypathing.com.
- Praktische, lokale Zusammenarbeit:
- USA: Kirche als gemeinsamer Raum – Nach den verheerenden Waldbränden in Los Angeles vermieten methodistische Gemeinden ihre Räumlichkeiten anonym an Muslime und Juden, um gemeinsame religiöse Nutzung zu ermöglichen – ein „Insel der Gnade“-Modell The Guardian.
- Indien: Fest der Hindu-Muslim-Versöhnung: Bei der Ganesh-Festivalfeier in Udupi besuchen christliche Geistliche die hinduistische Zeremonie und umgekehrt – gelebte Solidarität durch generationsübergreifende Zusammenarbeit. The Times of India.
2.2 Kritische Risiken – Wo Religionen problematisch wirken
- Dogmatismus und Exklusion: Wenn Religionen ihre Traditionen nicht reflektieren und reformieren, fördern sie oft Abgrenzung, Homophobie, Geschlechterungleichheit und Anti-Pluralismus.
- Instrumentalisierung religiöser Autorität: Wissenschaftlich wird kritisiert, dass interreligiöse Initiativen oft formale religiöse Institutionen („Big R Religion“) stärken – während Alltagsglauben und Graswurzelebene („little r religion“) marginalisiert werden. MDPI.
- Politische Verwertung: Staatlich gesteuerte Dialoge (z. B. in einigen Golfstaaten) können als Propaganda dienen, um autoritäre Regimes zu legitimieren, statt echten Frieden zu fördern MDPI.
- Power-Dynamiken und Exklusivität: Diese Dialoge drehen sich meist um dominante religiöse Führungsschichten. Frauen, einfache Gläubige oder marginalisierte Gruppen bleiben oft außen vor CREID.
- Religionsrelativismus und theologische Verflachung: Interreligiöse Gespräche neigen dazu, Unterschiede zu verharmlosen – etwa indem pauschal betont wird, „alle Religionen lehren Liebe“ – was religiösen Teilnehmern als oberflächlich und respektlos erscheint Political Science InstituteBA (Bachelor of Arts) Hub.
- Misstrauen gegenüber Dialog: In manchen Gemeinschaften gilt interreligiöser Austausch als versteckter Umwandlungsversuch oder westlicher Kulturimperialismus (z. B. kritisiert von Gruppen wie Hizb ut-Tahrir) Political Science Institute.
3. Beispiele für interreligiöse Zusammenarbeit – konkret, kritisch, vielgestaltig
3.1 Globale Initiativen mit Ambitionen und Grenzen
- Parlament der Weltreligionen: Große globale Plattform – wichtige Bühne, aber teils elitär und formal realitypathing.com.
- R20-G20-Religionsforum: Repräsentiert politische Anerkennung religiöser Beiträge – gleichzeitig riskant, wenn religiöse Führung instrumentell politisch eingesetzt wird. Wikipedia.
3.2 Lokale, konkrete und oft wirkungsvolle Ansätze
- GreenFaith & ICSD: Greifen an, wo Politik oft versagt – Umweltaktivismus durch Religionsgemeinschaften mit echten Initiativen vor Ort Wikipedia+1.
- Faith For Our Planet: Neue, dynamische Initiative – zeigt, wie junge religiöse Führungen sich mobilisieren lassen Wikipedia.
- Pluralism Project (USA):
- In Boston bauten Juden, Christen und Muslime zusammen ein islamisches Zentrum – nach einem Arson-Angriff wurde gemeinschaftlich wieder aufgebaut. pluralism.org.
- In Fremont/California entstanden Kirche und Moschee nebeneinander – gemeinsam genutzt, mit interreligiösen Gesundheitsaktionen pluralism.org.
- Lokale Aktionen wie interreligiöse Gemeinschaftsgärten, Theater, Gedenktage oder gemeinsame Hilfsaktionen zeigen Wirkung unter „normalen Menschen“ pluralism.org.
- Interfaith Youth Core (IFYC): Jugendarbeit auf Bildungsstätten – verbindet durch Dienstprojekte, statt nur religiös-dialogisch zu reden realitypathing.com.
- Interfaith Amigos: Ein Imam, ein Rabbi, ein Pastor gehen gemeinsam auf Tour, leiten Workshops und sprechen über Gemeinsamkeiten und Respekt – Kentucky großes Publikum realitypathing.com.
3.3 Dialog ohne Vorzeigefunktion – kritische Perspektive
- Strukturelle Ungleichheiten: Sprachbarrieren, Bildungsniveau, Ressourcen – viele Dialoge bleiben unausgewogen Political Science Institute.
- Elitär und männerdominiert: Konferenzen spiegeln oft eher religiöse Machtstrukturen – nicht die Vielfalt der Gläubigen CREID.
- Oberflächlichkeit statt Tiefe: Betonte Gemeinsamkeiten, ohne theologische Konflikte ehrlich anzusprechen – führt zu Relativismus und Entfremdung BA (Bachelor of Arts) Hub.
4. Sind Religionen heute noch Vorbilder – ja oder nein?
4.1 Ja – unter bestimmten Bedingungen:
- Wenn religiöse Akteure sich bewusst positionieren – als Fürsprecher für Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte oder Bildung – und sich dabei kritisch selbst reflektieren, können sie positive Vorbilder sein.
- Wenn Graswurzelarbeit gelingt: Lokale interreligiöse Gemeinschaftsprojekte zeigen großen, praktischen Nutzen – ohne diplomatische Floskeln, aber mit echter Nähe zu den Menschen.
- Wenn Institutionen reformfähig sind: Kirchen, Moscheen, Gemeinden, die sich öffnen, Dialog suchen, Transparenz walten lassen – das ist zeitgemäßer religiöser Auftrag.
4.2 Nein – wenn…
- Institutionelle Religion sich verschließt: Dogmatismus, Machtmissbrauch, Unterdrückung – dann sind Religionen eher gesellschaftliche Risikofaktoren.
- Interreligiöser Dialog oberflächlich oder symbolisch bleibt: Nur Lippenbekenntnisse ohne strukturelle Veränderung werden schnell zur Farce.
- Dialog als Machttool missbraucht wird: Wenn Religionen von Staaten oder Eliten instrumentell genutzt werden, verlieren sie moralische Legitimität.
Fazit und Ausblick
Religionen sind historisch tief verwurzelt, kulturell vielfältig und emotional bedeutsam. In einer globalisierten, säkularen und pluralistischen Welt stehen sie im Umbruch – und das ist gerechtfertigt.
Religionen können weiterhin zeitgemäß sein – wenn sie
- ihre Rolle kritisch reflektieren,
- inklusiv und reformorientiert handeln,
- sich auf interreligiöse Kooperation als Brückenbau verstehen,
- und lokal Mut zur Gemeinschaft zeigen-ohne dogmatische Selbstverteidigung.
Religionskritik bleibt notwendig, besonders dort, wo Glaube zur Ausgrenzung, zur Machtkonzentration oder zur ideologischen Verhärtung führt. Interreligiöse Zusammenarbeit ist kein Allheilmittel – sie braucht Authentizität, Gerechtigkeit und den Mut zum Konflikt.