Medienkompetenz im Wandel: Klassische Medien vs. Social Media – Warum beschimpft man sich gegenseitig?

Einleitung: Wenn Welten aufeinanderprallen


In der heutigen Medienlandschaft tobt ein Kulturkampf: Auf der einen Seite stehen die traditionellen, klassischen Medien – öffentlich-rechtliche Sender wie ORF, ARD und ZDF, große Tageszeitungen wie die Süddeutsche Zeitung, die FAZ oder der Spiegel. Auf der anderen Seite: TikTok, Instagram, YouTube, Telegram, X (früher Twitter) und unzählige unabhängige Creator, Influencer und Meinungsführer. Was früher als „seriöser Journalismus“ galt, wird heute von vielen als „Mainstream“, „gekauft“ oder „Lügenpresse“ diffamiert.

Der Ton ist rau geworden. Journalist:innen sehen sich zunehmend Angriffen ausgesetzt – nicht nur von außen, sondern auch durch das Infragestellen ihrer Relevanz. Umgekehrt schlagen Vertreter klassischer Medien auf Social Media oft mit Überheblichkeit zurück und werfen den Plattformen Desinformation, Populismus und Emotionalisierung vor. Doch woher kommt dieser Graben? Warum verlieren die traditionellen Medien so massiv an Deutungshoheit – und was bedeutet das für unsere Gesellschaft?


Traditionelle und moderne Medien im Konflikt: Information, Glaubwürdigkeit und digitale Interaktion.
Traditionelle und moderne Medien stehen in einem Konflikt: Informationsaufnahme, Glaubwürdigkeit und digitale Interaktion sind im Wandel.


Was bedeutet Deutungshoheit – und warum war sie lange unangefochten?


Der Begriff Deutungshoheit beschreibt die Fähigkeit, gesellschaftliche Themen und Ereignisse inhaltlich zu rahmen, sie also so zu präsentieren und einzuordnen, dass sie in einem bestimmten Licht erscheinen. Wer Deutungshoheit besitzt, bestimmt letztlich, was „wichtig“, „richtig“ oder „kritisch“ ist – und damit auch, wie Menschen über Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft denken.

Über Jahrzehnte hinweg hatten klassische Medien diese Deutungshoheit nahezu exklusiv. Es gab nur wenige, dafür sehr reichweitenstarke Informationsquellen: Abendnachrichten, Tageszeitungen, Radioprogramme. Die Journalist:innen dieser Medien waren Türhüter des öffentlichen Diskurses – sie entschieden, was gesendet, veröffentlicht und damit wahrgenommen wurde.


Der Paradigmenwechsel: Wie Social Media die Spielregeln verändert hat


Mit dem Aufstieg des Internets, besonders aber mit dem Durchbruch von Social Media ab den 2010er-Jahren, kam es zu einer Revolution: Jeder Mensch konnte plötzlich Inhalte veröffentlichen, Meinungen äußern, Reichweite erzielen. TikTok-Videos mit politischer Meinung erreichen heute Millionen, während Beiträge der Tagesschau in sozialen Netzwerken nicht selten untergehen.

Beispiel: Corona-Pandemie

Während der Corona-Krise etwa war zu beobachten, wie Influencer:innen und Telegram-Gruppen teils mehr Vertrauen bei Teilen der Bevölkerung genossen als ORF, ARD oder Der Spiegel. Einzelne YouTube-Videos von impfkritischen Stimmen oder „Querdenkern“ erzielten Millionen Aufrufe – und wurden als „alternative Wahrheiten“ wahrgenommen. Das zeigte deutlich: Die klassische Informationselite hatte ihre Deutungshoheit nicht nur verloren – sie wurde aktiv angegriffen.

Beispiel: Ukraine-Krieg

Auch beim russischen Angriffskrieg auf die Ukraine kursierten auf Plattformen wie TikTok oder Telegram unzählige „Gegenberichte“, die oft Putins Narrative stützten. Während deutsche Medien sich um Einordnung und Differenzierung bemühten, wurden ihnen Einseitigkeit und „NATO-Propaganda“ vorgeworfen – meist von Nutzern, die sich aus sehr spezifischen Quellen informierten.


Warum verlieren die klassischen Medien ihre Deutungshoheit?


1. Vertrauensverlust durch Fehler und Skandale

Journalistische Fehlleistungen – etwa schlampige Recherchen, voreilige Schlagzeilen oder politisch gefärbte Kommentare – haben dem Vertrauen in klassische Medien geschadet. Ein bekanntes Beispiel ist der Relotius-Skandal beim Spiegel 2018, bei dem ein Reporter systematisch Reportagen fälschte. Solche Fälle werden von Medienkritiker:innen (und vor allem in sozialen Netzwerken) als „Beweis“ gesehen, dass den etablierten Medien grundsätzlich nicht zu trauen sei.

2. Wahrnehmung von Elitendenken

Kritiker werfen klassischen Medien oft eine gewisse Arroganz vor – das Gefühl, „von oben herab“ zu berichten, anstatt zuzuhören. Vor allem Menschen aus ländlichen Regionen oder mit geringerer formaler Bildung fühlen sich von öffentlich-rechtlichen Angeboten nicht mehr abgeholt. Sie erleben viele Beiträge als politisch korrekt, akademisch oder abgehoben – und suchen sich auf Social Media Inhalte, die „näher dran“ und emotionaler sind.

3. Algorithmuslogik und Emotionalisierung auf Social Media

Plattformen wie TikTok, Instagram oder YouTube funktionieren nicht nach dem Prinzip „Relevanz durch Qualität“, sondern nach dem Prinzip „Relevanz durch Aufmerksamkeit“. Inhalte, die Empörung, Angst oder starke Emotionen erzeugen, verbreiten sich schneller. Das führt dazu, dass einfache Narrative, Schuldzuweisungen oder Verschwörungsmythen oft mehr Resonanz erhalten als differenzierte journalistische Einordnungen.

4. Fragmentierung der Öffentlichkeit

Früher gab es eine gemeinsame „Informationsbasis“ – heute konsumiert jeder seine „eigene Wahrheit“. Auf Social Media existieren sogenannte Filterblasen: Algorithmen zeigen den Nutzer:innen Inhalte, die zu ihrer Meinung passen – was wiederum das Gefühl bestärkt, im Besitz der „einzigen Wahrheit“ zu sein. Klassische Medien konkurrieren so nicht mehr nur mit anderen Medienhäusern, sondern mit Tausenden parallelen Erzählungen.


Die Folge: eine aggressive Kommunikationskultur.


„Lügenpresse“ vs. „Desinfluencer“

Der Begriff „Lügenpresse“, spätestens durch Pegida und die AfD salonfähig gemacht, ist Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber klassischen Medien. Gleichzeitig werden Influencer:innen und freie Online-Journalist:innen von traditionellen Medien häufig abgewertet oder als „unqualifiziert“ und „gefährlich“ dargestellt.

Beide Seiten arbeiten dabei mit gegenseitigen Abwertungen:

  • Influencer nennen Journalist:innen „Systemknechte“ oder „Propagandisten“.
  • Journalisten sprechen von „Desinfluencern“, „Clickbait-Propheten“ oder „Fake-News-Verbreitern“.

Diese Beschimpfungen zeigen vor allem eines: einen Kampf um Aufmerksamkeit, Einfluss und eben Deutungshoheit.


Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?


1. Vertrauenskrise in demokratische Institutionen

Wenn klassische Medien ihre Rolle als glaubwürdige Informationsquelle verlieren, leidet darunter nicht nur die Pressefreiheit, sondern die Demokratie selbst. Wer keiner „neutralen“ Instanz mehr vertraut, ist anfälliger für Populismus, Polarisierung und Manipulation.

2. Aufstieg von Desinformation und Verschwörungstheorien

Ohne verlässliche Orientierung greifen Menschen schneller zu simplen Antworten – besonders in Krisenzeiten. Fake News, manipulierte Bilder oder KI-generierte Deepfakes können sich ungehindert verbreiten, wenn niemand mehr glaubt, dass „echter“ Journalismus noch glaubwürdig ist.


Was kann helfen? Medienkompetenz als Schlüssel


Der wichtigste Lösungsansatz liegt in der Förderung von Medienkompetenz – und zwar bei allen Altersgruppen.

  • In Schulen sollte der Umgang mit Quellen, die Überprüfung von Fakten und das Erkennen von Manipulation Pflichtstoff sein – genauso wie Textanalyse.
  • In den Medien selbst braucht es mehr Transparenz: Wie entstehen Beiträge? Wer entscheidet über Themen? Welche Quellen wurden genutzt?
  • In der Politik muss die Bedeutung unabhängiger Medien gestärkt werden – durch faire Finanzierung der Öffentlich-Rechtlichen und Gesetze gegen gezielte Desinformation.


Fazit: keine Fronten, sondern Verantwortung auf beiden Seiten


Der Verlust der Deutungshoheit durch klassische Medien ist kein Zufall – er ist das Ergebnis einer veränderten Medienlogik, gesellschaftlicher Spannungen und wachsender Informationsflut. Doch statt sich gegenseitig zu bekämpfen, müssten beide Seiten – traditionelle Medien und Social-Media-Akteure – ihre Verantwortung erkennen.

Klassische Medien müssen verständlicher, transparenter und dialogorientierter werden. Social-Media-Nutzer:innen sollten sich ihrer Verantwortung für Reichweite und Wirkung bewusst sein – und kritisch hinterfragen, was sie teilen.

Denn in einer Welt, in der jeder publizieren kann, ist nicht nur Information Macht, sondern auch Medienkompetenz.


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