Einleitung

Bohemian Grove ist ein 11 Quadratkilometer großes, privates Gelände in den kalifornischen Redwood-Wäldern, das seit über 150 Jahren als exklusiver Treffpunkt der amerikanischen Elite dient. Was als harmloser Künstlerclub in San Francisco begann, entwickelte sich zu einem der geheimnisvollsten und einflussreichsten Netzwerke der Welt, das jährlich im Juli einige der mächtigsten Männer Amerikas zu einem zweiwöchigen Retreat versammelt.
Geschichte und Entwicklung
Der Bohemian Club wurde 1872 von Künstlern, Schriftstellern und Journalisten in San Francisco gegründet, zu denen auch der bekannte Autor Ambrose Bierce gehörte. Die erste Zusammenkunft in der Natur fand 1878 statt, als Henry „Harry“ Edwards eine Abschiedsfeier in den Redwood-Wäldern organisierte. Diese erfolgreiche Veranstaltung wurde zur jährlichen Tradition.
Bereits in den frühen Jahren übernahmen wohlhabende Geschäftsleute aus San Francisco die Kontrolle über den Club und stellten die finanziellen Mittel für den Erwerb des heutigen Geländes zur Verfügung. 1899 kaufte der Club das aktuelle Areal von einem Holzfäller namens Melvin Cyrus Meeker. Diese Transformation von einem Künstlerclub zu einem Elite-Netzwerk spiegelt die gesellschaftlichen Veränderungen Amerikas im späten 19. Jahrhundert wider.
Mitgliedschaft und Organisation
Die Mitgliedschaft im Bohemian Club ist ausschließlich männlich und extrem exklusiv. Die Wartezeit für eine Aufnahme beträgt normalerweise 15–20 Jahre, und Kandidaten müssen von mindestens zwei aktiven Mitgliedern empfohlen werden. Die Aufnahmegebühr beträgt 25.000 US-Dollar plus jährliche Beiträge.
Die etwa 2500 Mitglieder rekrutieren sich aus der amerikanischen Elite: ehemaligen und aktuellen US-Präsidenten, Industriemagnaten, hochrangigen Militärs, Medienführern und Wissenschaftlern. Nach 40 Jahren Mitgliedschaft erhalten Mitglieder den „Old-Guard“-Status mit besonderen Privilegien.
Das offizielle Motto lautet „Weaving Spiders Come Not Here“ (Webende Spinnen kommen nicht hierher), was bedeutet, dass geschäftliche Angelegenheiten offiziell außen vor bleiben sollen. In der Praxis finden jedoch durchaus wichtige informelle Gespräche und Koordinationen statt.
Einrichtungen und Camps
Das Gelände beherbergt 160 Acres uralter Redwood-Bäume, von denen einige über 1.000 Jahre alt und mehr als 300 Fuß hoch sind. Über das Areal verteilt befinden sich 118 „Camps“ – Schlafquartiere und Versammlungsorte für verschiedene Mitgliedergruppen. Die prestigeträchtigsten Camps tragen Namen wie Hill Billies, Mandalay, Cave Man und Owls Nest.
Das bekannteste Wahrzeichen ist eine 40 Fuß hohe Eulenstatue aus Beton, die mit Moos bewachsen ist und elektrische sowie Audioausrüstung enthält. Sie dient als zentrale Kulisse für das berühmte „Cremation of Care“-Ritual.
Das Cremation-of-Care-Ritual
Das umstrittenste Element des Grove ist das jährliche „Cremation of Care“ (Verbrennung der Sorgen) Ritual, das seit 1881 durchgeführt wird. Die Zeremonie findet in der ersten Nacht des Sommerlagers statt und folgt einem standardisierten Ablauf:
Ein Boot trägt eine Puppe namens „Dull Care“ über einen künstlichen See. Dunkle, verhüllte Gestalten in Roben empfangen die Effigie und platzieren sie auf einem Altar vor der Eulenstatue. Am Ende wird die Puppe verbrannt, begleitet von Musik und Pyrotechnik. Jahrelang sprach der berühmte Nachrichtensprecher Walter Cronkite die Stimme der Eule.
Das Ritual soll symbolisch die „stumpfen Sorgen“ des Gewissens verbannen und den Mitgliedern erlauben, ihre täglichen Verantwortungen für die Dauer des Grove-Aufenthalts abzulegen.
Bekannte Teilnehmer und historische Ereignisse
Zu den prominenten Mitgliedern und Gästen gehörten zahlreiche US-Präsidenten: Theodore Roosevelt, Herbert Hoover, Richard Nixon, Ronald Reagan, George H. W. Bush und George W. Bush. Internationale Gäste wie der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt sowie Persönlichkeiten wie Henry Kissinger und Alan Greenspan waren regelmäßige Teilnehmer.
Das historisch bedeutsamste Ereignis war ein Manhattan-Project-Planungsmeeting im September 1942, das zur Entwicklung der Atombombe führte. Teilnehmer waren Ernest Lawrence, J. Robert Oppenheimer, Universitätspräsidenten von Harvard, Yale und Princeton sowie Vertreter von Standard Oil und General Electric.
Kontroversen und Kritik
Der Grove steht aus verschiedenen Gründen in der Kritik:
Demokratische Legitimation: Kritiker bemängeln, dass einflussreiche Personen in geheimen, privaten Rahmen Entscheidungen treffen, die Millionen betreffen, ohne demokratisch legitimiert zu sein.
Geschlechterausschluss: Die strikte Männer-nur-Politik wird als diskriminierend und anachronistisch kritisiert und hat zu rechtlichen Auseinandersetzungen geführt.
Elitäre Abschottung: Der exklusive Charakter verstärkt soziale Ungleichheit und schließt die Öffentlichkeit von einflussreichen Netzwerken aus.
Das Ritual: Die Cremation of Care wird als bizarr und problematisch angesehen, besonders die symbolische „Verbannung des Gewissens“ bei Entscheidungsträgern.
Verschwörungstheorien und Infiltrationen
Die Geheimhaltung hat zahlreiche Verschwörungstheorien genährt, von Behauptungen über eine geheime Weltregierung bis hin zu satanistischen Ritualen. Mehrere spektakuläre Infiltrationen haben zur öffentlichen Wahrnehmung beigetragen:
• 1980: Rick Clogher (Mother Jones Magazin)
• 1989: Philip Weiss (Spy Magazin)
• 2000: Alex Jones filmte das Cremation of Care Ritual
• 2002: Richard McCaslin („Phantom Patriot“) drang bewaffnet ein
Alex Jones‘ Aufnahmen führten zu wilden Spekulationen über satanistische Praktiken, während der Dokumentarfilmer Jon Ronson die Ereignisse nüchterner als „überdimensionierte Studentenverbindungsparty“ beschrieb.
Wissenschaftliche Einschätzungen
Seriöse Wissenschaftler wie der Soziologe G. William Domhoff sehen den Grove als wichtigen Bestandteil der amerikanischen Elite-Struktur. Das Cremation-of-Care-Ritual dient primär der sozialen Kohäsion und schweißt die Elite zusammen. Der Grove fungiert als Ort der Netzwerkbildung und informellen Koordination zwischen verschiedenen Machtsektoren.
Religionswissenschaftler und Ritualforscher warnen vor Übertreibungen und betonen, dass das Ritual eher theatralische als okkulte Bedeutung hat. Die meisten Experten sehen den Grove als problematisch in Bezug auf demokratische Transparenz, aber nicht als satanistische Verschwörung.
Fazit
Der Bohemian Grove ist weder die harmlose Sommerparty, als die ihn Verteidiger darstellen, noch die satanistische Verschwörung zur Weltbeherrschung, als die ihn extreme Kritiker sehen. Er ist ein komplexes Elite-Netzwerk, das wichtige Fragen über Macht, Demokratie und Transparenz in modernen Gesellschaften aufwirft.
Seine reale Bedeutung liegt in der Funktion als informeller Treffpunkt der amerikanischen Machtelite, wo persönliche Beziehungen entstehen und informelle Absprachen getroffen werden. Das Manhattan-Project-Meeting zeigt, dass hier durchaus Entscheidungen von welthistorischer Bedeutung vorbereitet wurden.
Aus demokratietheoretischer Sicht sind die mangelnde Transparenz, die Exklusivität und die Möglichkeit informeller Machtkoordination problematisch. Gleichzeitig lenken wilde Verschwörungstheorien von den realen, dokumentierbaren Problemen ab.
Der Grove illustriert die Herausforderungen demokratischer Gesellschaften im Umgang mit Elite-Netzwerken und unterstreicht die Bedeutung von Transparenz, Inklusion und demokratischer Kontrolle von Macht. In einer Zeit schwindenden Vertrauens in Institutionen bietet die Auseinandersetzung mit dem Bohemian Grove wichtige Lektionen über die Notwendigkeit offener, rechenschaftspflichtiger Demokratie.
